Mystik im Äppelkahn
Ein Künstlergespräch mit Wolfgang Ueberhorst
von
Arturo Eskuchen
Arturo Eskuchen: Herr Ueberhorst, Sie haben gemeinsam mit
Michael Denhoffs Op. 76 einen Skulpturenzyklus vorgelegt, welcher im
Wesentlichen davon bestimmt ist, auf den jeweils vorgefundenen
musikalischen Vorwurf Ihres Komponistenfreundes zu reagieren. Diese
Reaktion soll mehr beinhalten als ein von der Musik angeregtes
stimmungsmäßiges Sichleitenlassen, gehen Sie doch, wie ich Ihren
wiederholten Statements während der verschiedenen Podiumsgespräche
entnehme, in der Grundidee insgesamt davon aus, dass eine tiefer gehende Verbindung
zwischen den beiden Medien besteht. Was führt Sie zu dieser Annahme, wieso
ist in Ihren Augen – um an den Einwurf eines Zuhörers in Köln anzuknüpfen –
nicht Kunst Kunst und Musik Musik?
Wolfgang Ueberhorst: Sehen Sie, dieser Gedankenaustausch ist, wie
Michael Denhoff es wiederholt formulierte, als ein Gespräch angelegt; das
impliziert ja bereits, dass beide Künstler ihre jeweilige Disziplin als
Sprache auffassen wollen. Anstelle des häufigen zeitgenössischen
Cross-over-Esperantos findet das Gespräch zwar in zwei verschiedenen
Sprachen aber auf einer thematischen Ebene statt, ein Umstand, den sich die
beiden Gesprächspartner gewissermaßen „leisten“ können, haben sie doch
bereits jeder für sich hinreichende Erfahrung in der Umsetzung von Musik in
bildende Kunst und umgekehrt gesammelt.
AE: Das vermeintlich Angenehme an diesem Aufbau, nämlich dass der eine
den anderen jeweils „ausreden lassen muss“, bevor er überhaupt antworten
kann, birgt es nicht auch ein Problem? Ist es nicht in einem tatsächlich geführten
Gespräch, auch wenn sich zwei Partner in ihrer jeweiligen von der des
Gegenübers verschiedenen Muttersprache miteinander unterhalten und von dem
anderen entsprechend gut verstanden werden, doch vornehmlich so, dass der
echte Dialog es ermöglicht, gemeinsam eine einzige Idee zu entwickeln,
wobei es im Falle Ihres Kunstdialoges darauf hinaus läuft, dass Sie
anstelle einer gemeinsamen Idee eine Reihe von Einzelwerken oder besser
gesagt Einzelstatements haben? Tatsächlich schreibt Herr Denhoff ja selbst,
dass seine Musikstücke im Ergebnis autonome, von Ihren Skulpturen
unabhängige Werke seien.
WU: Ich bin Ihnen sehr dankbar für diesen Einwand, ich bin nämlich
tatsächlich der Auffassung, dass gerade an diesem Punkt des Vergleiches der
Grund für das eigentliche Missverständnis bei denjenigen liegt, welche sich
zu dem von Ihnen erwähnten Zuhörereinwurf: Kunst ist Kunst und Musik ist
Musik gedrängt fühlen.
Zunächst einmal sei daran erinnert, dass das Gesprächsprojekt über
einen Zeitraum von knapp zehn Jahren angelegt war und in lockerer Abfolge
geführt wurde. Wenn man sich diesen Zeitraum stark gerafft vergegenwärtigt
– und in Form der Konzerte mit gleichzeitiger Skulpturenpräsentation hat
man ja den gesamten Dialog in seiner Abfolge gerafft vorliegen –, dann
kann man meiner Ansicht nach sehr wohl eine die Gesamtheit aller Werke
durchziehende Idee erleben. Dieses
Erlebnis wird, nicht zuletzt erfahrbar gemacht durch eine stark
performative Darbietung des Solisten, dem der Komponist eine über die
klassische Aufführungspraxis weit hinausgehende „raumgreifende“ Spielweise abverlangt und so zusätzlich zum Klangraum eine
„aktionsräumliche Komponente“ entstehen lässt.
Wichtig scheint mir daher der Hinweis, dass es sich im Vorfeld des
Projektes um eine bewusste Entscheidung handelt, der interdisziplinären
Beziehung einen Sinn geben zu
w o l l e n ; ich muss diesen Umstand erst einmal als Voraussetzung
für ein späteres Erlebnis akzeptieren. Es gibt ja genügend Beispiele auf
anderen Gebieten menschlich schöpferischen Geistes, wo ich mich bewusst für
eine „Sinngebung“ entscheide und anschließend auf der Basis dieser
Entscheidung erst sinnvolle Ergebnisse erhalte. Ich kann z.B. schlicht
ablehnen, mich mit der Aufgabe x² = -a überhaupt zu befassen oder ich führe
die imaginären Zahlen ein und bekomme erst anschließend aus diesem Schritt
resultierende sinnvolle Ergebnisse.
Ich kann jederzeit sagen: Kunst ist Kunst und Musik ist Musik, was
ja letztlich nur ein Spezialfall von Ad Reinhard´s art is art and
evrything else is evrything else. ist oder ich setze voraus,
dass Kunst Kommunikation und somit in der Lage ist, in sämtliche
Lebensbereiche hinein zu wirken.
AE: Wie hat man sich eine derartige „sinnvolle Verbindung“
vorzustellen? Wie kann eine Form einen Klang wiedergeben, in wieweit ist
eine solche „Wiedergabe“ objektiv nachvollziehbar? Gibt es z. B. die Form
„verminderter Septimakkord“ und wenn ja, wie sieht sie aus?
WU: Wenn Sie gestatten greife ich die letzte Ihrer Fragen zuerst auf
und berichte kurz über ein möglicherweise interessantes Nebenprodukt aus
den Anfängen dieses Zyklus. Mich trieb damals die Frage um, ob es zwischen
zwei abstrakten (bzw. konkreten) Gebilden so etwas gebe, wie eine
„intervall-analoge Beziehung“? Könnte man ausgehend von einer Form eine dazugehörige
zweite schaffen, welche mit der ersten eine Beziehung einginge, die
man in etwa mit der harmonischen Beziehung Tonika – Dominante wiedergeben
könnte?
Ich ließ mir für die Untersuchung dieser Frage seinerzeit einige mit
der Skulptur 1 „Schlafende Muse“ identische Wachsmodelle herstellen, welche
ich anschließend veränderte. Der Parameter für die „gelungene Anpassung“
der plastischen an die klangliche Form war mein Körpergefühl. Die Form wäre
gefunden, wenn sich bei dem entstandenen Gebilde in Verbindung mit der
Ausgangsskulptur ein Raumgefühl einstellen würde, welches assoziativ dem
Klanggefühl ausgelöst von T – D entspräche. Ich hatte damals eine recht
intensive Schaffensphase mit einer entsprechenden seelischen Stabilität, so
dass ich mir zutraute, das gewünschte Ergebnis herbeiführen zu können.
Nach einiger Zeit entstand eine neue Skulptur und die ließ ich dann
in derselben Bronzelegierung gießen, wie die Vorlage.
Irgendwann lag dann die gegossene neue Skulptur fertig neben der
ursprünglichen vor mir in der Gießerei auf dem Tisch. Und jetzt erst kommt
das eigentliche Faszinosum! Ich habe die Skulptur mit dem Knöchel meines
Zeigefingers an genau der Stelle angeschlagen, an der Michael Denhoff
die „Schlafende Muse“ mit einem Filzklöppel angeschlagen hatte, um aus ihr
heraus diesen Mischklang zu erwecken, welcher seiner wunderbaren
Komposition „Skulptur I“ zugrunde liegt und mit dem er sozusagen den
gesamten in der Bronzeskulptur schlafenden musikalischen Horizont wach
werden lässt, welchen er gefunden, empfunden, erfunden hat – ganz wie Sie
wollen!
Und nun: Was glauben Sie hat damals dieses Anschlagen mit dem
Knöchel hervorgebracht, was Ihnen heute so spektakulär erscheinen soll?
AE: Einen ganz besonderen Klang, wie ich infolge Ihrer Euphorie vermute
– aber ich höre!
WU: Zunächst einmal ganz trivial wiederum einen Mischklang, ähnlich
zusammengesetzt wie der „ursprüngliche“ Mischklang von Skulptur
1; dieser neue Mischklang jedoch verhielt sich „dominantisch“ zu dem
alten. Können Sie sich das vorstellen? Sie suchen das Analogon zu dem
Phänomen „Dominante“ als dreidimensionales Gebilde; Sie suchen lediglich
über die äußere Form, und am Ende ertönt das Phänomen als tatsächlich
dominantischer Klang!
AE: Gestatten Sie mir, Ihre Begeisterung ein klein wenig zu dämpfen,
aber für mich bedeutet die Tatsache, dass Sie einen bestimmten Klang
getroffen haben noch keinesfalls, dass Sie mit der Form des Klangträgers
das Analogon für eine visuelle Beziehung mit einer Klangbeziehung gefunden
haben. Sie könnten denselben Klang ja erzeugen, indem Sie eine rechteckige
Platte von entsprechender Dicke solange bearbeiten, bis Sie eben denselben
Klang ertönen hören – die Konsequenz könnte doch wohl kaum sein, dass die
rechteckige Platte die gleiche formale Beziehung der Skulptur – „Ib“ will
ich sie mal nennen – zu der Ausgangsskulptur Ia eingegangen ist.
WU: Das hatte ich schon vermutet, dass Sie hier mit irgend so einem
Glockengießertrick aufwarten würden, und ich bin ganz froh darüber, dass Sie
dieses Argument anführen, denn so kann ich vielleicht noch besser deutlich
machen, worum es mir eigentlich geht: Zunächst ist ja klar, dass Sie Metall
stimmen können, andernfalls Sie ja eine Reihe von Musikinstrumenten zu
bauen gar nicht in der Lage wären.
Sie haben jedoch bei Ihrem Bemühen, meine Begeisterung in die
gebotene Nüchternheit zurückzuführen ein Argument benutzt, welches –
möglicherweise von Ihnen selbst unbemerkt – die Dinge auf den Kopf stellt. Die
Tatsache, dass ein Klang die Richtigkeit einer gefundenen Form
unterstreicht – wohlgemerkt wurde ja zunächst einmal die Form unabhängig
von dem in ihr enthaltenen Klang gefunden, und es ist doch für den rein
formalen Zusammenhang willkürlich, dass es sich bei dem verwendeten
Material um Bronze, mit den entsprechenden hervorragenden
Klangeigenschaften handelt – die Tatsache also, dass die Form durch den
Klang bestätigt wird, bedeutet allerdings nicht, dass der Klang die Form
bestimmt, in dem Sinne, dass ein formaler Ablauf auf akustischem Wege
gefunden würde oder einfacher ausgedrückt: in dem Sinne, dass der Klang die
Form hervorbringt – das heißt: ich feile und hämmere nicht so lange an dem
Werkstück herum, bis sich der gewünschte Klang einstellt und schaue mir
daraufhin die entstandene Form an.
Aber wenn ich hier auf den ersten Teil Ihrer vorherigen Fragen
zurückkommen darf,
nämlich der Frage nach dem Zusammenhang von Klang und Form, der
Wiedergabe des Einen durch das Andere und den Möglichkeiten und Grenzen
innerhalb einer objektivierbaren Rezeptionsästhetik, dann wird der
hoffentlich von uns herausgearbeitete Zusammenhang vielleicht am
leichtesten dadurch verständlich, dass wir uns Klang und Form jeweils als
so etwas wie ein „Speichermedium“ vorstellen.
Ein treffliches Beispiel dafür ist Michael Denhoffs 1984
entstandenes, aus 366 datierten Einzelklängen bestehendes „Klangtagebuch“ –
eine Sammlung, welche das jeweilige persönliche Erleben des Komponisten zum
Abschluss eines Tages in einem einzigen Klang zusammenfaßt.
Alle diese Klänge wiederum vermögen bei ihm selbst, wenn er sie
heute nach über 20 Jahren hört, so genaue Erinnerungen an die der
jeweiligen Klangkreation zugrunde liegenden Umstände auszulösen, dass er
durch ihr bloßes Hören sogar Gerüche aus jenen fernen Tagen zu empfinden in
der Lage ist.
Bei einer Skulptur verhält es sich grundsätzlich nicht anders, wobei
der Tastsinn stärker noch als der Sehsinn die darin gespeicherten
Erinnerungen zu evozieren vermag – zumindest bei mir ist das der Fall.
AE: Und warum resultiert aus all dem die Möglichkeit der Visualisierung
des Akustischen?
WU: Wenn Sie mir den Hinweis gestatten: Sie drehen das Problem in Ihrer
Fragestellung bereits wieder um. Aus Michael Denhoffs sämtliche Grenzen der
Olfaktometrie sprengenden Meisterleistung der Geruchswahrnehmung resultiert
keine Möglichkeit im Sinne Ihrer Fragestellung, sondern die Leistung ist ja
selbst Resultat einer Möglichkeit oder besser gesagt einer Tatsache.
AE: Welcher?
WU: Der Tatsache, dass wir das, was wir räumliche Wahrnehmung nennen,
aus den, die jeweiligen Sinne betreffenden Einzelphänomenen zusammensetzen
– den Sehraum, den Hörraum den Tastraum, womit …
AE: … just die drei für ein musikalisch/bildhauerisches Vorhaben
entscheidenden Sinne „abgedeckt“ wären.
WU: Genau – mit dem Tastsinn, sogar bis hin zum anschließenden
Klaviervortrag.
Aber wenn ich gerade noch darauf hinweisen darf, was meiner
Ansicht nach objektive Hinweise für die Übertragungsmöglichkeit von
Erlebnissen aus dem einen Sinnesbereich in den anderen bietet, dann möchte
ich zum Einen an einen gewissen Jacques Lusseyran erinnern und zum andern
an eine am Smith-Kettlewell Institute of Visual Science in San Francisco
entwickeltes „Sehsystem“ für Blinde.
Letzteres ist weil noch rein materialistisch erklärbar vielleicht
weniger spektakulär, weshalb ich darauf gern kurz zuerst eingehen möchte.
Es funktioniert so, dass ein von einer Kamera aufgezeichnetes Bild
mit Hilfe von 400 Vibrationspunkten auf die Rückenhaut übertragen wird.
Nach einer Zeit intensiven Koordinationstrainings zwischen Kamerabewegung
und dem Erfassen der als Bild auf dem Rücken lokalisierten Hautreizungen,
beginnt sich für den Patienten das Bild von seinem Rücken zu lösen, er kann
es dann gewissermaßen in den vor ihm liegenden Raum verlegen. Der Patient
kann anschließend Gegenstände in Bewegung mit Hilfe der Kamera verfolgen
und deren Gestalt, Größe und Entfernung angeben, wie es heißt.
Jacques Lusseyran hingegen war sogar fähig, eine komplette
Landschaft vom Vordergrund bis zu den Bergen in der Ferne zu beschreiben,
obwohl er in seiner Kindheit – im Alter von acht Jahren, glaube ich –
erblindet war. Er spricht von einem „Ferndruck“ den die Gegenstände auf ihn
ausüben und aufgrund dessen er Bäume in ihrer Form bis zum Verlauf des
Astwerkes unmittelbar empfindend wahrnehmen könne. Außerdem gibt er
an, dass er Musik als Bewegungen und Farbabfolgen „visualisiert“.
Ich führe diese als zwei von vielen anderen Beispielen an –
nebenbei bemerktverleihen die Musen Demodokos als Ersatz für seine
Blindheit die Kunst des Gesanges –, um zu belegen, dass es aus der
Forschung hinreichend Indizien dafür gibt, dass der Einwand: „Kunst ist
Kunst und Musik ist Musik“ , der diese platte Trennung herbeiführen will,
schon auf rein physiologischer Ebene keine Entsprechung hat und es gibt in
Op.76, 3 eine Stelle, wo man zwei gegenläufige Glissandi nur zu hören
vermeint, weil in Wirklichkeit – vom Komponisten so intendiert – die Tasten
des Klaviers dabei nur soweit heruntergedrückt werden, dass die Hämmer die
Saiten gar nicht berühren und somit natürlich auch nicht zum Schwingen
bringen können. Das „Hören“ dieser ultraleisen Glissandi ist vom Sehsinn
hervorgerufene innerkörperliche Wahrnehmung.
Ich finde es hochinteressant, dass ausgerechnet in Opus
sechsundsiebzig Nummer d r e i sich diese Stelle findet, welche ja
als versteckter Hinweis auf die vorher ausgeführten theoretischen
Überlegungen zum Rezeptionsverhalten verstanden werden kann …
AE: Wieso „ ausgerechnet“?
WU: Nun, wie Sie wissen ist Op. 76, 3 ja die musikalische Antwort auf
meine dritte Skulptur. In der Zeit ihrer Entstehung war ich sehr
verunsichert hinsichtlich der Möglichkeit der Übertragbarkeit von Musik in
Plastik und ich war selber sehr im Zweifel darüber, ob unser ganzes Projekt
nicht eine einzige Seifenblase wäre.
Da wir unsere Disziplinen ja jeweils als Sprachen auffassen wollten,
habe ich mich in dieser Zeit grundsätzlicher mit dem
Übersetzungsproblem beschäftigt und weil ich selbst kein Musiker bin, befinde
ich mich ein wenig in der Situation des Quineschen Anthropologen, der
ausschließlich durch Beobachtung die vollständige Entschlüsselung einer
fiktiven Eingeborenensprache erreichen soll. Quines paradigmatisches
Kunstwort „gawagai“ für: „Das ist ein Kaninchen.“ dient der Illustrierung
des Übersetzungsproblems. Rein empirisch ist der Forscher nicht in der
Lage, mit Hilfe des Begriffes „gawagai“ zwischen e i n e m Kaninchen, mehreren oder nur
einzelnen Kaninchen t e i l e n zu unterscheiden, etwa, wenn der
Eingeborene ihn mit „gawagai“ auf die aus dem Gras hervorstehenden Löffel
des Kaninchens hinweist; es könnte sogar sein, dass jedes Mal ein Schwarm
bestimmter Fliegen gesichtet wird, wenn ein oder mehrere Kaninchen
auftauchen und dass deren Präsenz so eng an diejenige von Kaninchen
gebunden ist, dass wiederum an Hand der Beobachtung keine Klarheit über die
Übertragbarkeit von „gawagai“ auf „d a s ist e i n Kaninchen“
zu erzielen wäre.
Man ist dann von da sehr schnell bei Wittgensteins Privatsprachenargument
und dem Problem des Meinens und ich habe mir dann unter der Annahme, dass
der Eingeborene in Wahrheit beim Anblick von Kaninchen stets unweigerlich
schon meine spätere Skulptur 3 vor Augen hatte, erlaubt, dieser den Titel
„Gawagai“ zu geben.
AE: Ich greife dies als Stichwort auf für zwei abschließende Fragen.
Erstens: die nach den Werktiteln der sechs Skulpturen – Nebenfrage: wieso
sechs und nicht fünf? Und zweitens, gleichsam eine Frage nach der Syntax zu
Ihrem Sprachspiel: Diejenige nämlich nach der … hm, Positionierung ist
vielleicht kein sehr glückliches Wort … ich meine die Frage danach, wie
Ihre Skulpturen stehen – und wiederum muss ich zögern, denn sie stehen ja
in Wirklichkeit nicht, liegen aber wiederum auch nicht, sondern schaukeln sich
gewissermaßen ein bis zu einem sehr labilen Ruhezustand …
Aber kommen wir zuerst zu den Titeln, weil wir gerade dabei stehen
geblieben waren. „Gawagai“ hatten wir schon erwähnt, aber es gibt noch
einen zweiten Titel, der nicht von Ihnen stammt: „Schlafende Muse“.
WU: An wen denken Sie, wenn Sie den Titel „Schlafende Muse“ hören?
AE: Also, ich denke als erstes an Brancusi.
WU: Das ist ganz wunderbar! Das sollen Sie auch, denn dadurch, dass Sie
Brancusis schlafende Muse vor Augen haben, assoziieren Sie Skulptur 1
sofort als „Kopf“ und genau das ist beabsichtigt. Der Titel ist zunächst
einmal eine Hilfestellung für all diejenigen, die meine aus der Figur
entwickelte Formensprache nicht so vor Augen haben, – ich denke an die
Zeichnungsreihe zum Schachspiel oder an die Plastik „Mit dem Mund“ –
dass Sie unmittelbar einen Kopf in der bloßen Form zu erkennen vermögen.
Der Titel ist aber natürlich weit mehr als ein Hinweis auf
„Kopf“. „Schlafende Muse“ ist gleichsam die Initialzündung für das
gesamte Projekt; mit allem, was der Kopf an Ideen birgt und mit allem, was
die Muse einem beschert, wenn sie denn wach und zu Gast ist. Damit ist der
Titel auch in der Lage eine Brücke zu schlagen zu der späteren Skulptur 4
„Nascita di una idea“.
Skulptur 2, „La reine et la clef“ ist die erste Skulptur, welche
ausschließlich aus der Auseinandersetzung mit Michael Denhoffs Musik
entstanden ist; es ist auch die erste Skulptur in welcher ein Klangerlebnis
formal umgesetzt wird – zur Verstärkung des Eindrucks habe ich ein zweites
Metall, nämlich Silber verwandt. „La reine et la clef“ ist somit auch die
erste Skulptur in der Reihe, welche nach dem Prinzip „Bronze +“
realisiert wurde. Alle sich auf zwei Musikstücke beziehenden Skulpturen,
also zwei, drei, vier und fünf bestehen immer aus Bronze plus einem zweiten
Material: Bronze + Silber, Bronze + Email, Bronze + Alabaster, Bronze +
Edelstahl. Lediglich die zwei Arbeiten, welche aus dem Bereich der
sozusagen „intentionslosen Plastik“ kommen, nämlich „Schlafende Muse“ oder
wie „Barcarola“, die Nummer sechs, in diesen Bereich zurückführen –
intentionslos wohlgemerkt nicht im absoluten Sinne, sondern unter dem
Aspekt der Intention, auf einen musikalischen Vorwurf reagieren zu wollen –
lediglich diese beiden Arbeiten beschränken sich allein auf die Bronze.
Die beiden reinen Bronzeskulpturen bilden gewissermaßen den Rahmen
für die „Bronzeplusskulpturen“ mit Op. 76, 1-5. Es ergeben sich
damit insgesamt 11 Werke, ein Umstand, der Michael Denhoffs Faible für Primzahlen
entgegenkommt, vielleicht auch eine Verbeugung vor Messiaen darstellt,
womit ich sehr einverstanden wäre – aber diese besondere Primzahl besteht
zweimal aus der eins, zwei Individuen verschmelzen hier gewissermaßen zu
einem Wert, der weit über den additiven hinausgeht.
AE: Ist das jetzt ernst gemeint?
WU: Mit einem zwinkernden Auge …
AE: … des Freizeitmystikers.
WU: Na, na
… also … zumindest ist dies eine gültige Antwort auf Ihre vorherige
Nebenfrage. Nicht von ungefähr heißen Michaels Klavierstücke alle
„Skulptur“.
Skulptur und
„Skulptur“ stehen eins zu eins beieinander und wenn Michael Denhoff bei
seinen Kompositionen von selbständigen Werken spricht, so ist es vielleicht
interessant, daran zu erinnern, dass selbständig ursprünglich von selbander
kommt, was – beieinander, zusammen bedeutet. Selbständig also eigentlich
beieinander stehend – in diesem Fall eng bei meinen Skulpturen, selbst wenn
die „Skulpturen“ Op. 76 natürlich auch ohne deren physische Präsenz
spielbar sind.
AE: Zum Schluss bitte noch eine kurze Bemerkung
zum Schaukelcharakter, wenn ich es einmal so nennen darf. Alle sechs
Skulpturen haben eine äußerst labile bis indifferente Lage.
WU: Diese Wahl der Lagerung ist entstanden bei der
Suche nach einer räumlichen Formulierung, welche dem Zeitcharakter von
Musik gerecht werden könnte. Über den Zeitkegel bei Minkowsky und
verschiedene Veranschaulichungsmodelle kam ich auf das alte Bild vom ins
Wasser geworfenen Stein, der Wellen in Form konzentrischer Kreise
aussendet.
Welle, Wasser, Boot
all diese Assoziationen führen natürlich unweigerlich zu dem, was Sie den
Schaukelcharakter nennen und was ich keineswegs unpassend zu Michael
Denhoffs Musik finde – insbesondere passt das Bild zu „Skulptur 3“ und es
führt insofern auch konsequent zu Skulptur 6 die in der besonderen Weise
auf Op. 76, 5 reagiert, dass sie dabei gleichzeitig noch einmal Rückschau
auf das Gesamtprojekt hält; daher auch ihr Titel „Barcarola“ der das
faktische Schaukeln gewissermaßen ins Metaphorische erhebt. „Barcarola“ bedeutet
nicht nur die aus dem Gesang der Gondolieri abgeleitete dreiteilige
Liedform, es wird auch – zumindest in Norditalien, wo die Arbeiten gegossen
wurden – angewandt zur Bezeichnung eines sehr kleinen und mitunter wenig
Vertrauen erweckenden Bötchens …
AE: … Äppelkahn würde man das vielleicht bei uns
nennen?
WU: … in welches bei entsprechendem Risiko mal
gerade zwei Leute ´reinpassen.
AE: Zwei Künstler im Äppelkahn also?
WU: Im übertragenen Sinne und für den Verlauf des Projektes finde ich
es durchaus gestattet, sich Michael Denhoff und Wolfgang Ueberhorst in
diesem unsicheren Gefährt und fernab vom rettenden Ufer, heftig
dahinschaukelnd vorzustellen.
AE: Herr Ueberhorst, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Das Gespräch wurde im Oktober 2007 in Pian dei Falchi
aufgezeichnet.
|